Hold Your Own
Carsten Tabel, 2023
Gibt man einer Gruppe Kinder einen Beutel unaufgeblasener Luftballons, so werden die Heranwachsenden mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort in einen Wettstreit treten, um herauszufinden, wer den schlappen Gummibehälter am schnellsten mit der eigenen Atemluft füllen kann. Rasch wird auffallen, wie unterschiedlich hier die willentliche Steuerung der Atmung verläuft, wie sehr sich die Fähigkeiten zum Luftholen und Pusten in Geschwindigkeit und Intensität unterscheiden. Während das eine Kind Ballon nach Ballon zum Platzen bringt, verzweifelt das andere über der Unfähigkeit, die eigene Atmung lenken und funktionalisieren zu können. Ist es schließlich doch gelungen, so will es das Resultat konservieren, um es als Beweis der bewussten Beeinflussung des vegetativen Nervensystems vorzeigen zu können. Ein Erwachsener kommt, knotet den Ballon zu, schließt den Atem ein, schließt die Form und überreicht sie dem stolzen Kind. Der Ballon ist perfekt. Nicht zu unterscheiden von denen eines erfahrenen Aufpusters. Es ist egal, ob es fünf Sekunden oder fünf Minuten gedauert hat, egal wie mühsam die Steuerung der Atmung, der Shift von unbewusster zu bewusster Funktion gewesen ist – das Resultat gibt darüber keine Auskunft. Das Verhältnis zwischen Produktionsbedingung und Produkt wird unsichtbar. Aus dem Atemballon wird ein Luftballon, entkoppelt von Körperfunktion und Mühe, als hätte er sich selbst gefüllt. Wie aber lässt sich dauerhaft sichtbar machen, dass hier ein Mensch mittels seines individuellen Willens und seiner individuellen körperlichen Bedingtheit auf Material eingewirkt hat? Welche Form würde menschlicher Atem erzeugen, wäre er nicht nur Erfüllungsgehilfe einer industriell vorgegebenen Form? Dieser Frage geht Anna Vovan in ihrer Ausstellung Hold your own nach. Unter Anleitung eines Glasbläsers untersuchte die Künstlerin, zu welcher Form es den Atem selber drängt, wenn man ihn lässt. Sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf das erhitzte Material, galt es dabei ein wie auch immer geartetes Einwirken auf die Form möglichst zu vermeiden.
Visuelle Ausdrücke einer vegetativen Funktion begegnen uns auch in David Foster Wallace Kurzprosa „The Suffering Channel“. Die Exkremente von Brint Moltke, einem einfachen Arbeiter aus Indiana, ohne jegliche Kunstkenntnis, formen sich im Dickdarm scheinbar autonom zu Repliken großer skulpturaler Werke. In der Geschichte kommt die Frage auf, ob das, was ohne direkte, willentlich gesteuerte Körperfunktion entsteht, wirklich Kunst genannt werden kann. Moltkes „Skulpturen“, so die Erkenntnis der Romanfiguren, hätten bestenfalls die künstlerische Qualität von Fotografie, die ebenfalls keine Funktion des somatischen Nervensystems beanspruche, also eher einem vegetativen Vorgang gleiche. Licht fällt auf lichtempfindliches Material – kein mit speziellen Fähigkeiten ausgestatteter Körper ist dazu nötig. Nicht Genialität und handwerkliche Fähigkeiten zählen, sondern Demut und Passivität.
Vovans Atemobjekte entstanden ohne Skills und ohne Aktivierung des gestalterischen Willens. Folgt man Foster Wallaces Protagonisten, hätten sie deswegen auch eine gewisse fotografische Qualität. Und tatsächlich behandelt Anna Vovan die entstandenen Atembehälter aus Glas im fortlaufenden Prozess wie fotografische Negative. Mit dem Overheadprojektor durchleuchtet sie Form und Inhalt und lässt die Projektion schließlich auf Fotopapier treffen. Hier beginnt das exakte Arbeiten, der Abschied vom Geschehen lassen, der Einsatz kognitiver Funktionen. Ergebnisse einer vegetativen Produktion werden in einen aktiven Gestaltungsprozess gebracht. Darin erkennbar wird eine Gebrauchsweise von Fotografie, die den passiven Anteilen den größtmöglichen Platz zugesteht. Man arbeitet mit etwas, was da ist, und macht es schließlich zu einem ästhetischen Ereignis.
Auf die Spitze getrieben wird Passivität als bildgebende Methode in der Arbeit 2022. Jeden Tag des Jahres hat Anna Vovan ein A4 Papier mit lichtempfindlicher Lösung eingestrichen und für vierundzwanzig Stunden dem Tages- und Nachtlicht ausgesetzt. Die einzelnen Cyanotypien wurden abfotografiert, zu einem Buch gebunden und werden jetzt in der Ausstellung an die Wand des Galerieraums projiziert. Da Vovan darauf verzichtet hat, die Blätter zu fixieren, ist das, was wir sehen, so schon gar nicht mehr vorhanden. 2022 wird bei jedem Durchblättern erneut dem Licht ausgesetzt, überschreibt sich also bei jedem Betrachtungsvorgang immer wieder selbst. So wie das vergangene Jahr niemals ganz beendet sein wird, weil die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, und vice versa. Wie das vegetative Nervensystem arbeitet 2022 von alleine. Man muss sich also keine Sorgen machen: das Herz wird weiter schlagen, Bilder und Formen entstehen von sich aus – wenn man sie nur lässt.
Self in Letters
Franciska Zólyom, 2021
Einen Brief zu schreiben ist so gut wie unmöglich. Wie sollte es gelingen, sich mit einem Mal mitzuteilen ohne sich einzuschränken? Folglich ist ein Brief nur eine mögliche Fassung dessen, was man jemandem erzählen möchte. Er gibt die Gedanken und Gefühle der Schreibenden in einem bestimmten Moment wider. Und würde er im nächsten Moment anders lauten, wäre er nicht minder wahr. Schreibt man mehrere Briefe, kommt man einem genauen Ausdruck auch nicht zwangsläufig näher. Das schreibende Ich wird zwar in der fortlaufenden Erzählung erkennbar. Diese jedoch zerstreut sich nur allzu leicht, indem sie alltägliche
Themen aufgreift und umkreist.
In Self in Letters beschäftigt sich Anna Vovan mit diesem
Dilemma. Die Texte gehen auf das Buch Letters from Jenny zurück, in dem etwa 170 Briefe einer alleinstehenden Frau veröffentlicht sind und vom Sozialpsychologen Gordon W. Allport interpretiert werden. Die Briefe berichten von einem zerrütteten Leben und der schwierigen Beziehung zwischen der Schreibenden und ihrem Sohn. Seite für Seite manifestiert sich der eigensinnige Charakter von Jenny, ihr starres Bild von der Welt, in der es vermeintlich
nur Recht oder Unrecht, nur Gewissheiten aber keine Zweifel gibt. Die Ausführungen von Allport, die Jenny aus verschiedenen psychologischen Denkrichtungen heraus beschreiben, wirken ähnlich festgefahren.
Anna Vovan wählt einen anderen Weg. Sie bearbeitet Jennys Briefe durch Auslassungen und löst die Wörter damit aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang. So entstehen an der Stelle von Behauptungen Lücken, die eine grundsätzlichere Erzählung zum Vorschein bringen. Diese handelt vom bloßen Versuch, sich mitzuteilen und das eigene Erleben für sich und andere greifbar zu machen.
Sprache als Ding
Maik Schlüter, 2015
»Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton,
»dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.«
»Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen
lassen kann.«
»Es fragt sich nur«, sagte Goggelmoggel, »wer der Stärkere ist, weiter nichts.«1
Sprache ist eine Konstruktion und ein Werkzeug der Kommunikation. Sie basiert auf komplexen und komplizierten Regelwerken. Und obwohl sie niemals ein Ding selbst darstellt, sondern ausschließlich als Verweis auf etwas existiert, behauptet Sprache sich als alles beschreibende Macht. Wer besitzt die Deutungshoheit über die Worte? Der Mensch wortet die Welt und bedeckt die Vielzahl an Phänomenen, Dingen und Figuren mit Beschreibungen und Begriffen. Das Geheimnis der Sprache liegt in ihrer Doppeldeutigkeit: Sie ist gleichermaßen ein System von unterscheidbaren Lauten und eine systematische Anordnung von Zeichen. Die Laute transportieren den Inhalt. Die Verwendung von wohlgeformten Sätzen und einer verbindlichen Grammatik ist möglicherweise eine anthropologische Eigenheit. Nur der Mensch bringt Sprache und Geist so vollendet zum Ausdruck. Anders als die Tiere, können Menschen immer auf etwas verweisen, das außerhalb ihrer selbst liegt. Aber wie entsteht Sprache? Ist sie ein Organismus, der wächst, sich entwickelt und verändert, um schließlich zu altern und zu verschwinden? Oder ist die Sprache ein geschlossenes und bereits bestehendes System, das gemäß der Regeln der Grammatik, Syntax und Semantik erlernt werden muss? Ein Gebilde, das in einen vordringt, ein Raum, in den man geworfen wird und in dem man erbarmungslos den Diktaten von Laut und Bedeutung, Sinn und Struktur folgen muss? Oder ist Sprache ein Virus aus dem Weltall, wie es William S. Burroughs einst behauptete? Was passiert, wenn wir die Sprache nicht richtig lernen, wenn wir uns ihrer Konventionen und Systematik verweigern oder unsere Sprache verlieren? Dann fallen wir heraus aus dem Schema von Senden und Empfangen, von Verstehen, Erklären, Interpretieren und Bewerten. Dann stellt sich die Frage, wer der Stärkere ist, was gesprochen werden darf und welche Bedeutung damit konstituiert wird. (…)
In »V. Woolf (28.03.1941)« von 2015 zeigen sich die Grenzen der Sprache, aber auch die Hilflosigkeit und die Verzweiflung, die mit einem Verlust der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten einhergehen. Virginia Woolfs Abschiedsbrief, den sie kurz vor ihrem Suizid an ihren Mann schrieb, ist ein berührendes Dokument der Angst, der Einsamkeit, der Krankheit und der Erkenntnis, nichts mehr sagen zu können. Anna Vovan reduziert die ohnehin schon knappen Aussagen auf die Personalpronomen. Dazwischen liegt scheinbar die Welt, die aber nur dann Sinn macht, wenn sie in einer Beziehung gespiegelt wird. Ganz gleich ob es sich um reale Erfahrungen, um Sinnlichkeit, um Liebe oder Formen der Imagination handelt (tatsächlich sind die Grenzen fließend), bedeutet die durch Depression und Wahn verursachte Sprachlosigkeit einen existenziellen Verlust der Verbindung zum geliebten Menschen und zur Welt.
Dieser Zusammenhang findet sich auch in den Filmbildern mit den Titeln wie »It we« oder
»I you me« oder »I her« (2015). Hier aber nicht in einem authentischen Bekenntnis, wie dem der Dichterin Virginia Woolf, sondern vielmehr in dem nie abreißenden Strom an Bildern, Worten und Geschichten, wie sie die Filmindustrie unaufhörlich produziert. Anna Vovan generiert aus Filmsequenzen einzelne Bilder und legt diese in einem Sandwichverfahren übereinander. Es sind aber nicht die Bilder, die ihre Auswahl leiten, sondern eingeblendete Untertitel, die synchron zum gesprochenen Text, Worte und Handlungen lesbar werden lassen. Vovans Interesse gilt auch hier ausschließlich den Personalpronomen. Jeder Satz und jeder Dialog
wird mit diesem Vorgehen reduziert auf einen Aspekt von Beziehung, Kontaktnahme, Ansprache oder Zuschreibung. Wie viele Filme gibt es zum Thema Ich und Du? Gibt es überhaupt andere Themen? Und worum geht es? Um Liebe, Hass, Eifersucht, Angst, Sex, Macht, Lüge, Verrat, Glück, Unterwerfung? Die Geschichte wird dem Film entzogen. Übrig bleibt eine existenzielle Reduktion auf verbale menschliche Interaktion. Aber in der Endlichkeit der Themen und Worte liegt eine Unendlichkeit der Bedeutung und Kombinatorik begründet. Selbst dann, wenn immer das Gleiche gesagt wird.
Die Abwesenheit von Worten ist in der Arbeit »Letters (slid under a door)« (2015) zu sehen. Aber stimmt das? Kann man Abwesenheit überhaupt sehen? Und geht es in »Letters (slid under a door)« nicht vielmehr um das Hören. Hören kann man bekanntlich nicht sehen, aber jenseits der Sichtbarkeit sind Worte, Töne, Geräusche immer wahrnehmbar. Im Gegensatz zum Auge lässt sich das Ohr nicht schließen. Oftmals ist man gezwungen Dinge zu hören, die man nicht hören möchte. Aber man kann genauso gut seinen Hörsinn auch darauf ausrichten, etwas zu hören, was man nicht hören soll. Sprechen und Gehört-werden sind fundamental verkoppelt. Worte, die keinen Adressaten oder Zuhörer finden, führen früher oder später in die Isolation oder sogar in den Wahnsinn. Anna Vovans Arbeit »Letters (slid under a door)« zeigt unter einer Hälfte der Tür hindurch geschobene Fotopapiere, die im Raum und mit dem vorhandenen Licht belichtet wurden. Der Spalt ist der Riss im Gefüge der Kommunikation: Barriere und Öffnung zugleich. Eine Möglichkeit trotz der Grenzen miteinander zu sprechen. Eine unter der Tür hindurch geschobene Nachricht kann auch ein Brief sein, eine Bitte, ein Hilferuf, ein Komplott, ein Wort gegen die Isolation, eine Möglichkeit, die Monade der Subjektivität zu überbrücken. In »Letters (slid under a door)« geht es vielleicht um erzwungene Stille oder um zugeschlagene Türen? Um ein Zuviel und ein Zuwenig an Worten? Die Abstraktion des Bildes stellt in »Letters (slid under a door)« die Worte in Frage, nicht aber den Akt der Kommunikation.